In einer gemeinsamen Erklärung vom 31. Mai zur geplanten sogenannten „Parkstadt“ im Stadteil Broich, auf dem ehemaligen Firmengelände von Tengelmann/Wissoll, machen drei Bürgervereine der Stadt und dem österreichischen Investor Soravia klar, dass das Vorhaben von ihnen ganz anders gesehen wird.
Ich greife diese Erklärung deshalb auf, weil sie hervorragend in wesentlichen Teilen auch zu den derzeitigen Großbauvorhaben in Duisburg „passt“.
Hier der 1:1-Wortlaut:
Direkt nach unserem Rückzug aus dem Projektbeirat sind wir an die im Beirat
vertretenen politischen Fraktionen herangetreten und haben um ein Gespräch
gebeten. Da dieses Angebot nicht angenommen wurde fassen wir einige unserer Belange auf diesem Weg kurz zusammen:
1. Masterplan Industrie und Gewerbe
– Die Politik hat sowohl den Entwurf eines „Masterplanes Industrie und Gewerbe“ Stand 2019 abgelehnt als auch eine Diskussion auf der Basis des von Mülheim & Business vorgestellten Wirtschaftsflächenkonzeptes nicht zu Ende geführt. Mülheim & Business wurde bekanntlich Ende 2020 aufgelöst und die „Wirtschaftsförderung“ in die Stadtverwaltung integriert.
– Wo bleibt ein Leitbild, die vorhandenen Industrie- und Gewerbegebiete zu stärken und damit für ganz Mülheim an der Ruhr Arbeitsplätze zu sichern?
– Wo bleiben aktuelle Leerstandsanalysen und belastbare Bedarfsprognosen als Basis einer bewussten Stadtentwicklung?
– Wir prognostizieren: Es gibt in Mülheim an der Ruhr kein Bedarf insbesondere für einen neuen Bürostandort. Hierzu tragen nicht unwesentlich auch die in der ehemaligen Schokoladenfabrik bereits nach § 34 BauGB an der Öffentlichkeit vorbei genehmigten Büro- und sonstigen Gewerbeflächen bei.
– Unsere Meinung: Zur Vermeidung einer weiteren Gewerbeflächen-Zersiedelung sollte auf die Zulassung weiterer Gewerbeflächen innerhalb des Bebauungsplanes „Parkstadt Mülheim – Y 13“ verzichtet werden.
2. Masterplan Zentren und Einzelhandel
– In der Beschlussvorlage V 15/0340-01 „Der Rat der Stadt beschließt den Masterplan Zentren und Einzelhandel 2015 und beauftragt die Verwaltung, diesen bei Genehmigungsverfahren für Einzelhandelsvorhaben, in der Bauleitplanung und bei allen anderen städtischen Planungen mit Einzelhandelsbezug zu berücksichtigen. In regelmäßigen Abständen ist der Masterplan Zentren und Einzelhandel zu prüfen und gegebenenfalls zu aktualisieren.“ Die Vorlage wurde am 25.06.2015 durch den Rat
unverändert beschlossen.
– Im Masterplan Zentren und Einzelhandel werden beispielsweise die zentralen
Versorgungsbereiche Duisburger Straße und Prinzeß-Luise-Straße als
Stadtteilzentren eingestuft.
– In § 1 des Baugesetzbuches sind Aufgabe, Begriff und Grundsätze der Bauleitplanung aufgeführt. Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind gemäß Abs. 6 Nr. 4 BauGB auch „die […] Erhaltung und Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche“ zu berücksichtigen.
– Die Öffentlichkeit ist in Bauleitplanverfahren möglichst früh über die allgemeinen Ziele und Zwecke der Planung, sich wesentlich unterschiedliche Lösungen, die für die Neugestaltung oder Entwicklung eines Gebietes in Betracht kommen, und die voraussichtlichen Auswirkungen der Planung öffentlich zu unterrichten [§ 3 Abs. 1 Satz 1 BauGB].
– Wir prognostizieren: Es ist beabsichtigt, die „Parkstadt Mülheim“ zu einem neuen Versorgungszentrum zu entwickeln. In den Wettbewerbsunterlagen wird offen von der Schaffung eines neuen Stadtteils gesprochen.
– Unsere Meinung: Die „Parkstadt Mülheim“ sollte dazu beitragen, die vorhandenen Versorgungszentren zu stärken. Der heutige Standort von Netto und Kik reicht für eine Versorgung „auf kurzen Wegen“ vollständig aus.
3. Wohnraumbedarf
– Woher kommt die im Einleitungsbeschluss zum Bebauungsplan „Parkstadt Mülheim – Y 13“ benannte Zielgröße: 90.000 m² Bruttogrundfläche Wohnen? [Vorlage V 22/0283-01]. Zur Ableitung des unterstellten Bedarfs an dieser Stelle gibt es keine Ausführungen.
– Das Handlungskonzept Wohnen von INWIS datiert auf Februar 2012 [V 12/0193-01].
– Die INWIS-Dokumentation „Bezahlbarer Wohnraum in Mülheim an der Ruhr – Hearing und Analyse“ datiert auf Oktober 2019.
– Die aktuellste Berichtsvorlage „Wohnbaupotenziale und Statistik“ wurde im
Wirtschaftsausschuss am 13.04.2021 vorgestellt [V 21/0247-01].
– Der Regionalverband Ruhr hat im Rahmen einer „Siedlungsflächenberechnung Ruhr“ auch die gesamtstädtischen Wohnbauflächenbedarfe für Mülheim an der Ruhr abgeleitet. Basis sind natürlich Daten aus der Mülheimer Stadtverwaltung. Die darin
veröffentlichten Zahlen begründen ebenfalls keine Kumulation der geplanten
Größenordnung an dem Tengelmann-Standort. Zudem fehlt eine standortspezifische Zielgruppenanalyse.
– Der guten Ordnung halber sei der Hinweis erlaubt, dass im Rahmen einer
Bauleitplanung mit einer angeblichen Umsetzungszeit von 10 bis 15 Jahre nicht die heutige Nachfrage zugrunde gelegt werden sollte, sondern der Bedarf.
– Wir prognostizieren: Das seitens des Investors vorgesehene Wohnraumangebot geht an den Mülheimer Bedarfen vorbei.
– Unsere Meinung: Im Rahmen eines Bebauungsplanes der vorliegenden Größe mit einer angeblichen Umsetzungszeit von 10 bis 15 Jahre sollte nicht die Nachfrage als Maß zugrunde gelegt werden. Vielmehr sind der Stadtplanung die tatsächlichen gesamtstädtischen Bedarf und eine angemessene Verteilung über das ganze Stadtgebiet zugrunde zu legen, um auch zukünftig die vorhandenen Versorgungszentren erhalten zu können.
4. „Parkstadt“
– Der Bebauungsplan „Parkstadt Mülheim – Y 13“ sieht grundsätzlich die Festsetzung „Urbanes Gebiet“ vor. Die zukünftigen Baugrundstücke außerhalb einer Grünzone mit „See“ sollen eine hohe Dichte aufweisen.
– Wir prognostizieren: Für die zukünftigen Bewohner der „Parkstadt“ werden die Freiflächen nicht auf dem eigenen Grundstück, sondern in einem gemeinschaftlichen „Park“ nachgewiesen.
– Unsere Meinung: Wenn sich die Planung an die für lebenswerte Wohngebiete übliche Dichte halten würde, bräuchte es keines zentralen „Parks“ und der Standort würde von einer grünen Vernetzung profitieren.
5. Der „See“
– Wenn sich alle Projektbeteiligten bewusst wären, dass unsere Stadt „Mülheim an der Ruhr“ und nicht „Mülheim“ heißt wäre evtl. deutlich, dass die Mülheimer keinen zusätzlichen See brauchen.
– Wir prognostizieren: Der „See“ wird aufgrund der Bodenverhältnisse ein rundum abgedichtetes Bauwerk, das der Regenwasserbewirtschaftung dient. Wir befürchten, dass beabsichtigt wird, die enorme Unterhaltungs- und Verkehrssicherungspflicht auf die Stadt zu übertragen.
– Unsere Meinung: Die Broicher und Speldorfer brauchen keine (weitere) öffentliche Parkanlage mit oder ohne See. Für die bereits der Naherholung dienenden öffentlichen Anlagen, zu denen bspw. der Raffelbergpark zählt, fallen schon genug Kosten an.
6. Regionaler Flächennutzungsplan
– Für die Umsetzung eines Bebauungsplanes „Parkstadt Mülheim – Y 13“ mit
Schwerpunkt „Urbanes Gebiet“ bedarf es der Änderung des Regionalen
Flächennutzungsplanes (RFNP).
– Die frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit sowie der Träger öffentlicher Belange zu dem Änderungsverfahren 44 MH (Wissollstraße) fand bereits vom 17.08.2020 bis 17.09.2020 statt.
– Im Einleitungsbeschluss zum Bebauungsplan „Parkstadt Mülheim – Y 13“,
beschlossen durch den Planungsausschuss am 24.05.2023 heißt es „die Änderung des RFNP Nr. 44 MH (Wissollstraße) im Parallelverfahren gem. § 8 Abs. 3 BauGB ist bereits eingeleitet worden. Mit der Änderung werden für den Geltungsbereich des Bebauungsplanes im RFNP gem. § 5 Abs. 2 BauGB ausschließlich gemischte Bauflächen dargestellt.“ [V 22/0283-01]
– Die vom Rat der Stadt Mülheim an der Ruhr am 23.06.2022 beschlossene öffentliche Auslegung der RFNP-Änderung war im Zeitraum vom 22.08. bis 22.09.2022 terminiert.
– Nun könnte theoretisch der Satzungsbeschluss gefasst werden.
– Wir prognostizieren: Die Beteiligung der Öffentlichkeit an dem Änderungsverfahren 44 MH (Wissollstraße) ist deshalb so gering ausgefallen, da kaum jemand die Bedeutung der Planungsziele erfasst hat. Hierzu hat auch beitragen, dass die Bezeichnung „Parallelverfahren“ irreführend war und ein Hinweis auf die zahlreichen sachdienlichen Anregungen der Träger öffentlicher Belange zur RNFP-Änderung 44 MH (Wissollstraße) in der Vorlage zum Einleitungsbeschluss des Bebauungsplanes „Parkstadt Mülheim – Y 13“ keine Erwähnung fanden.
– Unsere Meinung: Der Satzungsbeschluss über eine RFNP-Änderung sollte erst dann erfolgen, wenn die Planungsziele auf der Ebene des Bebauungsplanes durch angemessene Abwägung aller Anregungen und fachtechnischen Belange feststeht.
7. Bebauungsplanverfahren
– Der Umsetzungshorizont für den Bebauungsplan „Parkstadt Mülheim – Y 13“ wird mit 10 bis 15 Jahren angegeben.
– Wir prognostizieren: Die Planungsperspektive über einen so langen Zeitraum ist viel zu unsicher, als dass das Baurecht dafür heute bereits über die gesamte Fläche fixiert werden sollte.
– Unsere Meinung: In einem städtebaulichen Rahmenplan grundsätzliche
Zielvorstellungen vereinbaren, die abschnittweise über 3 bis 4 Bebauungspläne umsetzen werden können. Dabei können Erfahrungen – auch mit dem jeweiligen Investor – gesammelt und die Planung unter Berücksichtigung der jeweils zeitgemäßen Bedarfe detailliert werden.
8. Kosten für die Stadt
– In der Vorlage zum Einleitungsbeschluss V 22/0283-01 heißt es unter „Finanzielle Auswirkungen“: „Es entstehen zunächst Planungskosten und im weiteren Verlauf der Planumsetzung Erschließungskosten sowie ggf. Kosten für Ausgleichsmaßnahmen. Die Stadt Mülheim an der Ruhr hat mit der Eigentümerin des ehem. Tengelmann-Areals eine Planungsvereinbarung mit einer die Interessen beider Seiten berücksichtigenden Regelung zur Kostentragung erarbeitet. Die Vereinbarung soll in Kürze unterzeichnet
werden. Zum Satzungsbeschluss wird zudem ein städtebaulicher Vertrag zu schließen sein, der die Kostenübernahme für die Erschließung des Geländes und ggf. notwendige Ausgleichsmaßnahmen etc. durch die Flächeneigentümerin regelt. Soweit Planungskosten durch die Stadt Mülheim an der Ruhr zu tragen sind, werden diese über das Budget des Amtes 61 abgedeckt.
– Was heißt „mit einer die Interessen beider Seiten berücksichtigenden Regelung zur Kostentragung“?
– Wir prognostizieren: Die „Parkstadt Mülheim“ wird die Stadtgesellschaft zukünftig sehr viel Geld kosten.
– Unsere Meinung: Die mit dem Investor abgeschlossene Planungsvereinbarung sollte ehrlich offen gelegt werden. Nur unter Einbeziehung der geplanten öffentlichen Lasten können bei der aktuellen städtischen Haushaltslage Entscheidungen getroffen und
durch die Öffentlichkeit Anregungen zur Planung gegeben werden.
Dies sind nur einige der Punkte, die wir gerne im Projektbeirat erklärt bekommen hätten. Anstelle dessen wurde darauf bestanden, den „Siegerentwurf“ weiterzuentwickeln, d.h. den dritten Schritt vor dem ersten vorzusehen. Sobald die Grundlagen zu dem Bebauungsplan „Parkstadt Mülheim – Y 13“ vorliegen, werden wir uns gerne näher damit befassen. Auch für eine Besprechung mit der Politik stehen wir dann grundsätzlich bereit.
Gezeichnet am 31. Mai 2023 von
i.V. Dennis Weiler für den Interessengemeinschaft Speldorf e.V.
i.V. Sven Thiemann für den Speldorfer Bürger- und Kurverein e.V.
i.V. Anke Schniewind für den Broicher Bürgerverein e.V.
Quellen:
1. https://www.muelheim-ruhr.de/cms/wettbewerb_parkstadt_muelheim.html
2. https://www.rvr.ruhr/fileadmin/user_upload/01_RVR_Home/02_Themen/Regionalplanung_Entwicklung/Regionalplan_Ruhr/Dritte_Beteiligung/Begruendung/2023_Begr_TeilD_Anh1_Wohnen.pdf